Geflüchtete aus der Ukraine wissenschaftlich begleitet

Forschung
Jahresbericht 2024

Die Forschungsabteilung von Refugio München arbeitet am Puls der Zeit, um psychosoziale Veränderungen im Bereich Flucht und Migration wissenschaftlich zu begleiten. Das ermöglicht eine gute Verbindung zwischen klinischer Praxis und wissenschaftlichen Erkenntnissen, die wir in diversen Publikationen zur Verfügung stellen

Ein Beispiel, wie wir Projekte wissenschaftlich begleiten, ist das Mental Health Center Ukraine (MHCU). Das Projekt entstand als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine im Februar 2022 und wurde Ende 2024 in das bestehende Behandlungszentrum am Rosenheimer Platz integriert. Bis heute sind aufgrund des Krieges 1,2 Millionen Menschen aus der Ukraine allein nach Deutschland geflohen. Ziel des MHCU-Projektes war es, diesen Geflüchteten in München eine Möglichkeit zu geben auf ihrer Muttersprache über psychischen Belastungen zu sprechen und dadurch eine Verschlechterung oder Chronifizierung von psychischen Erkrankungen zu vermeiden.

Geflüchtete Kinder und Erwachsene aus der Ukraine hatten im MHCU die Möglichkeit fünf individuelle psychologische Krisengespräche zu bekommen und/oder an einer Gruppentherapie mit bis zu zehn Sitzungen teilzunehmen. Auch konnten sie sich bei Bedarf von einer Sozialarbeiterin oder Psychiater*in beraten lassen. Alle Angebote fanden mit ukrainisch-/russischsprachigen Therapeutinnen oder mit Hilfe einer Dolmetscherin statt. Wir boten also gezielt „psychische Erste-Hilfe“ an, damit sich die Belastung in der Anfangszeit im Exil nicht zu einer psychischen Erkrankung chronifiziert und wir zugleich möglichst vielen Menschen Hilfe anbieten konnten. Da das MHCU das erste multidisziplinäre Projekt dieser Art war, wurde es von der Refugio Forschungsabteilung wissenschaftlich begleitet. Damit wollen wir auch Erkenntnisse für zukünftige vergleichbare Krisenfälle sammeln.

Ein erster Schritt der Forschungsabteilung war die systematische Erhebung der Soziodemographie, Resilienz, Psychopathologien und Behandlungszufriedenheit aller Klient*innen im MHCU ab 18 Jahren im Zeitraum von Februar 2023 bis Dezember 2024. Erste Erkenntnisse über Klient*innen unter 18 Jahren konnten generiert werden, indem ihre Erziehungsberechtigten einen Fragebogen ausfüllten. Die Klient*innen konnten die Diagnostik entweder zu Hause online in ihrer Muttersprache durchführen oder vor Ort mit einer ukrainischen Kollegin aus der Forschungsabteilung. Wir befragten die Klient*innen bei Behandlungsbeginn, sechs Wochen später (in der Regel der Therapieabschluss) und zwölf Wochen nach Behandlungsbeginn. Somit ergeben sich drei Messzeitpunkte.

Erste wissenschaftliche Auswertungen über die Stärken und Bedarfe der Klient*innen liegen bereits vor. Die Daten wurden von uns im Juli 2024 in einem Themenschwerpunkt zu kollektiven Traumata der systemischen Fachzeitschrift Familiendynamik vom Klett-Cotta Verlag veröffentlicht. Die Auswertungen zeigen, dass 64% der Klient*innen zu Behandlungsbeginn die Kriterien einer Depression, 60 % die Kriterien einer Posttraumatischen Belastungsstörung und 54% die Kriterien einer generalisierten Angststörung erfüllten. Bei Behandlungsende gaben die meisten Klient*innen an, weitgehend zufrieden (54%) oder sehr zufrieden (35%) mit der Behandlung am MHCU zu sein. Der häufigste Wunsch war, die Therapiestunden insgesamt zu erhöhen. Weitere Erkenntnisse und Auswertungen sollen folgen und unter anderem von einer ukrainischen Doktorandin unserer Abteilung innerhalb ihrer Promotion in Kooperation mit dem Klinikum der LMU München veröffentlicht werden.

Die Forschungslücke zu ukrainischen Geflüchteten, die sich in Behandlung befinden, ist immens. Dies liegt zum einen daran, dass der Angriffskrieg 2022 startete und Wissenschaftler*innen noch keine Zeit hatten, ihre Untersuchungen abzuschließen. Zum anderen gibt es sehr wenige Orte an denen Geflüchtete in Deutschland Behandlung bekommen und gleichzeitig wissenschaftlich begleitet werden. Wir sind deutschlandweit eine der wenigen Forschungsabteilungen, die an einem psychosozialen Zentrum arbeitet. Daher freuen wir uns besonders, dass die zukünftigen Datenauswertungen veröffentlicht werden und so einen wichtigen Beitrag auf der Suche nach adäquaten psychotherapeutischen Behandlungen liefern.

Das Team der Forschungsabteilung