Systematische Früherkennung von Schutzbedarfen – der Schlüssel zu Versorgung und Schutzrechten

Gastbeitrag der BAfF (Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer)

Refugio München hat ein eigenes Team in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in München, das psychisch erkrankte und/oder traumatisierte Geflüchtete, sowie Opfer von Menschenhandel oder LGBTIQ* Personen identifiziert und berät. Um die Herausforderungen einer deutschlandweiten Umsetzung dieser EU-Verpflichtung geht es im Gastbeitrag unseres Dachverbandes BAfF.

Geflüchtete haben nach ihrer Aufnahme in Deutschland und während des Asylverfahrens Anspruch auf Schutz und Versorgungsleistungen, müssen aber beim Zugang zu rechtlicher Beratung, sicherer Unterbringung und bedarfsgerechter gesundheitlicher Versorgung noch immer Barrieren überwinden. Diese Barrieren sind ungleich höher für Menschen mit besonderen Schutzbedarfen. Um dieser Vulnerabilität Rechnung zu tragen, legen auf EU-Ebene die Aufnahmerichtlinie (AufnahmeRL) sowie die Verfahrensrichtlinie (VerfRL) ein Verständnis besonderer Schutzbedürftigkeit und daraus abzuleitender besonderer Verfahrensgarantien dar. Im deutschen Aufnahmesystem werden Personengruppen als schutzbedürftig eingestuft, die aufgrund verschiedener Faktoren und Merkmale ein höheres Risiko der Ausgrenzung, der (erneuten) Gewalterfahrung und/oder Beeinträchtigung im Asylverfahren zu erwarten haben. Dazu zählen (unbegleitete) Kinder, Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen, ältere Menschen, Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen, Überlebende von Menschenhandel, Personen mit schweren körperlichen oder psychischen Erkrankungen, sowie Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexualisierter Gewalt erlitten haben.

Durch geeignete Unterbringung, Versorgung und Beratung soll sichergestellt werden, dass die Benachteiligungen dieser Personen ausgeglichen werden können. Voraussetzung für die Umsetzbarkeit bedarfsgerechter Schutzmaßnahmen ist jedoch zuerst die Identifizierung der schutzbedürftigen Personen. Dies soll frühzeitig nach der Aufnahme geschehen, aber auch zu jedem späteren Zeitpunkt noch möglich sein. Einige Schutzbedarfe sind dabei einfacher zu identifizieren, wie beispielsweise das Alter (wobei auch die Beurteilung von Minderjährigkeit häufig nicht eindeutig möglich ist) oder das Feststellen einer Schwangerschaft. Auch manche körperliche Beeinträchtigungen – etwa eine Gehbehinderung – sind relativ leicht zu identifizieren. Hier scheitert die bedarfsgerechte Versorgung häufig an der Finanzierung und Bereitstellung angemessener Hilfsmittel. Andere Schutzbedarfe wie die sexuelle Orientierung, Gewalterfahrungen und/oder psychische Erkrankungen sind weniger offensichtlich und werden daher leicht übersehen. Hier müssen sich Schutzsuchende entscheiden, ihre Erfahrungen und Bedarfe selbst anzusprechen, damit Unterstützungsstrukturen darauf eingehen können. Eine frühzeitige Information und rechtliche Aufklärung aller Schutzsuchenden ist daher von zentraler Bedeutung, damit diejenigen mit unsichtbaren Schutzbedarfen entscheiden können, welche Informationen sie einbringen möchten, um ihre Schutzrechte geltend machen zu können. Vor allem Verfolgung und Gewalt, die mit einem besonderen Stigma verbunden sind oder an tabuisierte Identitätsmerkmale anknüpfen, sind oft schwierig zu benennen. So können beispielsweise Angst oder Scham Schutzsuchende daran hindern, über ihre sexuelle Orientierung, geschlechtliche Identität oder eine Behinderung/Beeinträchtigung zu sprechen. Ein systematisches Verfahren zur Identifizierung besonderer Schutzbedarfe hat Deutschland bislang nicht implementiert. In der Realität fallen geflüchtete Personen außerdem häufig in mehr als eine der Schutzkategorien, woraus sich andere und oft komplexere Bedarfe ableiten lassen – beispielsweise für ein Kind mit einer Beeinträchtigung oder eine lesbische Frau, die Folter überlebt hat.

Im Rahmen des Modellprojekts “BeSAFE – Besondere Schutzbedarfe bei der Aufnahme erkennen” (2021-2022) wurde von der BAfF (Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer) ein Konzept zur systematischen und zielgruppenübergreifenden Identifizierung besonders schutzbedürftiger Geflüchteter  entwickelt und in Projekten in Bremen und Nordrhein-Westfalen pilotiert und evaluiert. Die Projektreferent*innen Lisa vom Felde und Alva Träbert beraten und begleiten nun im Sinne einer Skalierung und Vertiefung bei der Implementierung bedarfs- und standortgeeigneter Identifizierungsmaßnahmen.

Bislang fehlt es deutschlandweit an der flächendeckenden und systematischen Umsetzung einer strukturierten frühen Identifizierung von besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden, wie es die EU-Aufnahmerichtlinie verlangt. Refugio München hat ein Verfahren zur Früherkennung entwickelt, das seit Januar 2021 in der Erstaufnahme in München durchgeführt wird. Eine Evaluation aus den Jahren 2021 bis 2022 hat eine hohe Wirksamkeit des Projekts gezeigt. Die Erweiterung des Konzeptes auf weitere Erstaufnahmeeinrichtungen in Bayern und weitere Bundesländer würde mehr geflüchteten Menschen mit besonderen Schutzbedarfen die Wahrnehmung ihrer Rechte ermöglichen.
Über SoulCaRe – Früherkennung besonders schutzbedürftiger Asylsuchender