„Tief beeindruckt und stolz auf die Menschen, die zu uns kommen“

Fachärztliche Arbeit
Jahresbericht 2024

Psychotherapeut*innen können Psychologie oder Medizin studiert haben. Unabhängig ihres Abschlusses müssen beide Professionen eine mehrjährige Ausbildung für Psychotherapie machen. Bei Refugio München haben wir im Vergleich zu sehr vielen anderen psychosozialen Zentren den Vorteil vier Fachärzt*innen als Psychotherapeut*innen zu haben.

 

Dr. Heike Baumann-Conford ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie ärztliche Leitung bei Refugio München. Sie erklärt hier die wichtige Rolle der Mediziner*innen bei der Behandlung von traumatisierten Geflüchteten.

 

Heike, wie ist es als Ärztin und Psychotherapeutin bei Refugio München zu arbeiten?

Die Arbeit hier bei Refugio München in einem phantastischen multiprofessionellen Team aus Sozialpädagog*innen, psychologischen Psychotherapeut*innen,  Fachärzt*innen und Dolmetschenden ist für mich bis heute faszinierend, anregend, anspruchsvoll. Bei manchen Klient*innen sieht man schon nach wenigen Monaten eine deutliche Verbesserung der Symptomatik, bei anderen dauert es ein bis zwei Jahre, bis die schwere Traumafolgesymptomatik nachlässt und die Suizidgedanken weniger werden. Aber jedes Mal, wenn ich sehe, dass der Lebenswille wieder da ist, dass der Gedanke an eine Zukunft möglich wird, dass plötzlich glückliche Kindheitserinnerungen auftauchen, die bis dahin von den brutalen Erlebnissen überlagert waren, ist das ein unglaublich kraftvoller beglückender Moment.

Wo liegt neben Deiner therapeutischen Arbeit der Schwerpunkt der ärztlichen Tätigkeit?

Als ärztliche Leitung von Refugio München setze ich mich für die Belange traumatisierter geflüchteter Menschen auf verschiedenen Ebenen ein. Wir sind europaweit vernetzt mit Kolleg*innen, die Menschenrechtsverletzungen, Pushbacks und Folter an den europäischen Außengrenzen dokumentieren, wir sind deutschlandweit vernetzt mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren (BAfF) und den einzelnen psychosozialen Zentren und ich bin Teil einer Arbeitsgruppe zur Dokumentation von Folterspuren und für die Ausbildung von Gutachter*innen. In München und Umgebung bauen wir die konstruktive Zusammenarbeit mit dem Institut für Rechtsmedizin der LMU München zur Narbendokumentation von Folteropfern weiter aus, sowie die gute Zusammenarbeit mit den kbo-Kliniken zur Versorgung psychiatrischer Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, Suizidalität und schwerer Traumafolgestörungen.

Darüber hinaus gibt es bei der psychotherapeutischen Behandlung von Asylsuchenden eine juristische Besonderheit: Durch die momentane Gesetzeslage dürfen nur wir Fachärzt*innen Atteste und Stellungnahmen zum Asylverfahren für unsere Klient*innen unterschreiben, obwohl unsere psychologischen Kolleg*innen hier im Haus fachlich genauso qualifiziert sind.

Welche Rolle spielt der kulturelle Hintergrund der Patient*innen bei eurer Arbeit?

Das Konzept von „psychischer Erkrankung“ ist in den Herkunftsländern teilweise mit Stigmatisierung und großer Scham behaftet. Hier geht es um einen respektvollen medizinischen und therapeutischen Ansatz. Wir berücksichtigen dabei die Ressourcen und die „Über-Lebensleistung“ der Klient*innen. Denn ohne das erlebte Grauen von Krieg, Folter und Missbrauch wären sie psychisch sicher gesund geblieben.

Gibt es Patient*innen, die dich in deiner langen beruflichen Erfahrung besonders beeindruckt haben?

Es gibt tatsächlich Dutzende, die ich hier aufzählen könnte. Ich denke an viele junge Frauen und Männer, die durch Gewalterfahrungen und Missbrauch im Heimatland und auf der Flucht schwer traumatisiert waren und um die wir uns in den ersten Monaten der Therapie große Sorgen gemacht haben aufgrund der starken Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Suizidalität. Wenn ich Ihnen jetzt zufällig in der Stadt begegne; oder eine stolze Email mit dem Foto des KFZ-Mechatroniker-Gesellenbriefs oder dem Abschlusszeugnis als Pflegefachkraft bekomme; oder den glücklichen Anruf einer schwer traumatisierten jungen Frau nach der Geburt „mein Baby ist da, alles lief gut“ bekomme, wissend, dass ihr erstes Baby auf der Flucht in ihren Armen ermordet worden war, dann bin ich tief beeindruckt und stolz auf die Menschen, die zu uns kommen.

Liebe Heike, vielen Dank für interessante Gespräch.