Hilfe beim Sprung in eine neue Welt

Jahresbericht 2020
Kunsttherapie an Schulen

Die Kunsttherapie ist ein spezielles Bildungsangebot von Refugio München zur Förderung der Integration von Schüler*innen mit Fluchterfahrung. Die Kinder müssen im deutschen Schulsystem von heute auf morgen einen Platz finden, obwohl sie oft noch keine Zeit zum Durchatmen und Ankommen gehabt haben.

Die Herausforderungen an Schüler*innen mit Fluchterfahrung sind hoch, sie lernen eine neue Kultur, Sprache und Freunde kennen und müssen innerhalb kürzester Zeit im Schul-System Fuß fassen. Im Rahmen der Kunsttherapie haben die Kinder die Zeit und Aufmerksamkeit der Kunstetherapeut*innen, um sich mit einigen Themen intensiver auseinanderzusetzen. Diese Betreuung können die Lehrkräfte der Regelklassen im Alltag nicht leisten.

In Absprache mit der Schulleitung, den Klassenlehrer*innen und der Schulsozialarbeit, werden zu Beginn des Schuljahres die Gruppen zusammengestellt. Die Zusammenstellung ist sehr individuell, manchmal ist es notwendig reine Mädchengruppen zu führen, aber in der Regel sind auch in der Kunsttherapie die Kinder sehr gemischt. Religion, Kultur, Hautfarbe und Geschlecht spielen keine Rolle.

Der Zugang zu jedem Kind ist immer individuell. Wer sich mit Kunst beschäftigt, beschäftigt sich mit sich selbst und gibt somit der Unsicherheit, der Verdrängung und den Ängsten weniger Platz. Die Kinder brauchen oft einige Zeit, um das nötige Selbstbewusstsein zu entwickeln und eigene Werke zu gestalten. Wir geben Ihnen die Zeit, die sie brauchen.

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Akilah, ein 13-jähriges Mädchen aus Syrien, lebt seit kurzem mit ihrer Familie in Deutschland. Sie ist die jüngste in der Familie und hat noch drei erwachsene Geschwister, die bereits verheiratet sind und im Berufsleben stehen. Akilah fühlt sich von ihrer Familie sehr unter Druck gesetzt, die von ihr besonders gute Noten und die Absolvierung der gehobenen Schullaufbahn erwartet. Sie ist sehr schüchtern und introvertiert, bisweilen mit depressiven Verstimmungen. Sie leidet unter der häuslichen Anforderung und Belastung, während sie gleichzeitig versucht, ihre weibliche Identität zwischen Herkunftskultur und hiesigen Vorstellungen und Werten zu finden. In der Gruppe lebt sie auf, hier findet sie einen Raum, um sich auszusprechen, ihren Zweifeln und Gefühlen Ausdruck zu verleihen. So entstehen für sie in der Gruppe Freundschaften mit anderen Mädchen, über die sie sehr glücklich ist.
Zum Ende des Schuljahres bezeichnet sie sich selbst auf dem Sprung in eine neue Welt.

Im Jahr 2020 haben wir durch die zusätzliche Herausforderung der Corona-Pandemie schnell reagieren müssen, um den Zugang zu den Kindern in der Isolation nicht zu verlieren. Über eine oft langwierige Vertrauensarbeit finden die Kinder zu sich, sie erleben gemeinsam Erfolge, entwickeln daraus neues Selbstbewusstsein und können diese gewonnenen Erfahrungen als Stärke in kleinen Portionen in den Alltag mitnehmen. Die Pandemie hat zum Teil zu einer großen Verunsicherung, teilweise mit konkreten Ängsten bei den Schüler*innen mit Fluchterfahrung geführt. Vieles was hier in der neuen Heimat geschah, erinnerte die Kinder an den Beginn ihrer Flucht: Verunsicherung, Isolation, Ungewissheit. Die Kinder waren von heute auf morgen dem Umfeld der oft traumatisierten Familie in der Gemeinschaftsunterkunft ohne Unterstützung ausgeliefert und hatten keine Möglichkeit sich dem Ganzen zu entziehen. Teilweise musste sogar die Betreuung durch die Sozialarbeiter*innen vor Ort eingestellt werden.

Wir haben uns entschlossen, den Kindern aus den Kunsttherapie-Gruppen einen individuell zusammen gestellten Kreativ-Werkzeugkasten zukommen zu lassen. Entsprechend der bis dahin genutzten Materialien in der kreativen Stunde bekamen die Kinder: Skizzenbuch, Stifte, Kinetic-Sand, Lego oder Malvorlagen zugeschickt. Über eine Postkarte konnten die Kinder uns eine Nachricht und ihre Kontaktdaten zukommen lassen.

So konnten wir ihnen die Möglichkeit geben, selbstgestärkt und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und diese durch eine langfristige und enge Unterstützung zu stärken und untermauern. Die Kinder bauen gerade das Fundament fürs Leben und die Kunsttherapie fördert die Stabilität.

Die Herausforderungen der Pandemie haben unsere Arbeit in den Schulen nicht leichter gemacht, aber umso mehr gezeigt wie wichtig sie für die Kinder und Jugendlichen ist.

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Akilah auf dem Sprung in eine neue Welt