„Ich bin in Sicherheit“

Was wir gemeinsam erreichen können

 Shqipe Krasniqi ist Therapeutin für Kinder und Jugendliche. Das Schöne an ihrer Arbeit ist, dass sie meist sehr deutlich beobachten kann, wie ihre Arbeit den jüngsten unserer Klient*innen hilft. Hier berichtet sie von der Therapie der kleinen Mariam:

Im Wartebereich sitzen die Eltern mit ihrem vierjährigen Sohn und der neunjährigen Mariam (Name geändert) aus Afghanistan. Mariam wirkt unglücklich und macht einen sehr erschöpften, fast schon gleichgültigen Eindruck. In ihrer Haltung wirkt sie niedergedrückt, ihr Blick ist fest auf den Boden gerichtet.

Meine Kollegin Tanja Lüders, Sozialpädagogin, begleitet die Familie in mein Therapiezimmer zum Erstgespräch, wo ich bereits mit der Dolmetscherin warte. Wir drei Mitarbeitende von Refugio München stellen uns vor. Meine Kollegin erklärt, wie wir bei Refugio arbeiten und warum Menschen zu uns kommen. Mariam hört aufmerksam zu, aber sie nimmt keinen Blickkontakt zu uns auf. Als ich Mariam einfache Fragen stelle, wie alt sie sei, in welche Klasse sie gehe, antwortet der vierjährige Bruder für sie.

Plötzlich beginnt der Vater zu berichten, dass seine Tochter Mariam unter massiven Ängsten sowohl nachts als auch tagsüber leide. Zu dem Zeitpunkt sind schon Mariams Augen mit Tränen gefühlt, aber sie sagt kein Wort und schaut uns nicht an. Auch die Mutter weint leise vor sich hin. Der Vater wirkt hilflos. Wir erklären den Eltern, dass wir genau für Kinder wie Mariam zuständig sind. Und dass es den Kindern besser geht, wenn sie eine Weile zu uns kommen. Dann führen wir das Gespräch zuerst mit den Eltern und ohne die Kinder weiter. In Abwesenheit der Kinder berichtet der Vater, dass seine Tochter unter Ängsten und Alpträumen leidet, schnell weint und nicht wie die anderen Kinder spielt.

Die Eltern erzählen, dass ihre Tochter sehr viele schreckliche Dinge erlebt hat.

In der Heimat ist eine Bombe in der Nachbarschaft explodiert, die ganze Nachbarsfamilie und auch die Freundin von Mariam sind dabei ums Leben gekommen. Während des Fluchtwegs mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer wäre die Familie fast ertrunken. In Griechenland hat Mariam viel Gewalt erlebt, ein Mann ist vor den Augen der Familie erstochen worden. Außerdem hat die Familie den Brand (9/2020) im Flüchtlingslager auf Moria miterlebt.

Als Mariam wieder ins Therapiezimmer kommt, ist sie still, sie sagt nichts. Sie starrt nur in den Raum und wirkt abwesend. Aber sie hört aufmerksam zu. Ich erkläre, was Therapie bedeutet und dass Kinder bei uns lernen, ihre Ängste zu besiegen. Sie schaut zum ersten Mal die Dolmetscherin an und sagt mit kaum hörbarer und zittriger Stimme: „Ich habe auch immer Angst!“ und beginnt laut zu weinen. „Angst, dass ein Mann kommt und uns mit dem Messer ersticht.“ Es ist schwer auszuhalten, wie sie weint. Ich zeige ihr Atemübungen, damit sie sich beruhigen kann. Dann gebe ich ihr viele Informationen über Ängste und wie sie lernen kann, sich zu beruhigen.


 

Shqipe Krasniqi

 

Shqipe Krasniqi ist langjährige Psychotherapeutin
für Kinder und Jugendliche bei Refugio München

 


 

In der nächsten Sitzung schreiben wir Sicherheitssätze auf ein Blatt, damit sie diese nicht vergisst: „Ich bin in Deutschland. Ich bin in Sicherheit. Hier passiert mir nichts.“ Sobald die Ängste kommen, soll sie „Stopp“ sagen, die Atemübungen machen und an die Sicherheitssätze denken, die sie auswendig lernt.

Die ersten Behandlungsstunden sind von großer Unruhe geprägt. Immer wieder flackern Ängste kurz auf, zum Beispiel wenn es ein Geräusch vor der Tür gibt oder im Nebenraum etwas lauter gesprochen wird. Sowohl mit ihr als auch mit ihren Eltern arbeite ich sehr viel mit Techniken wie imaginativen Übungen, Atemübungen, körperorientierte Verfahren, trainiere ihre Selbstsicherheit und Angstbewältigung. Ihre Gefühlslage verbessert sich. Die regelmäßigen Reflexionsgespräche mit den Eltern über alltägliche Situationen dienen dazu, die Wahrnehmung und Einstellung der Eltern zu verändern. Auch die Eltern müssen lernen, Mariam schrittweise allein zu lassen und darauf zu vertrauen, dass sie es schaffen wird.

Inzwischen kommt Mariam entspannter in die Sitzungen.

Sie hat sich in der Therapie mit ihren Erlebnissen gut auseinandergesetzt und einen Zugang zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen gefunden.

In der letzten Phase der Therapie betritt sie das Therapiezimmer mit einem Lächeln, ihr Gesicht und ihre Augen glänzen, sie spricht laut und deutlich, ihre Körperhaltung ist selbstbewusst und sie erzählt, dass sie studieren und Ärztin werden möchte, damit sie vielen Kindern helfen kann. Im Abschlussgespräch verspricht Mariam, dass sie uns anrufen wird, wenn sie es aufs Gymnasium geschafft hat.