Jahresbericht 2020
„Mich beeindruckt der politische Anspruch ärztlicher Arbeit“, sagt Dr. Heike Baumann-Conford, Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie bei Refugio München. Sie zitiert dabei aus der „Deklaration von Genf“ des Weltärztebundes: „Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.“
Die ärztliche Arbeit bei Refugio München ist ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Derzeit arbeiten vier Fachärzt*innen bei Refugio München. Alle haben vor Ihrer Facharztausbildung Medizin studiert und bringen somit ihr Wissen über körperliche Erkrankungen in die Arbeit mit ein.
Die Ärzt*innen werden deshalb von Kolleg*innen zu Rate gezogen, wenn es um Fragen der Diagnostik oder Differentialdiagnostik eher psychiatrischer Störungsbilder, wie etwa aus dem schizophrenen Formenkreis, geht. Denn sie kennen durch das Wissen und die Erfahrungen im psychiatrisch-medizinischen Bereich diese Störungsbilder aus der Praxis besser. In solchen Fällen ist auch die medikamentöse Behandlung primäres Mittel der Wahl. Gerade in unserer Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten kann es häufig zu Fehleinschätzungen kommen, wenn Stimmenhören oder auch Halluzination sofort als psychotische Erkrankung eingeordnet werden. Die Tatsache, dass jemand zum Beispiel Stimmen hört, kann sowohl für eine Traumafolgestörung als auch für eine psychotische Erkrankung sprechen. Im Rahmen der Traumafolgestörung handelt es sich dann um das Wiedererleben traumatischer Ereignisse, als psychotische Erkrankung haben die Stimmen eher keinen Bezug zu realen Ereignissen oder gehen stark über diese hinaus. Ein junger Mann aus Afghanistan hörte beispielsweise regelmäßig bedrohliche Stimmen. In der Befragung stellte sich dann heraus, dass es die Stimmen der Taliban waren, die ihn regelmäßig sexuell missbrauchten. Hier geht es also um eine Folge der traumatischen Erfahrung und somit eine psychotherapeutische Bearbeitung der Erlebnisse.
Nicht immer ist diese Abgrenzung so leicht zu treffen, da es auch zu Vermischungen oder psychotischen Störungen als Traumafolge kommen kann.
Hier ist der interdisziplinäre Austausch mit den Ärzt*innen für unsere Psychologischen Psychotherapeut*innen dann besonders hilfreich und die unterschiedlichen Schwerpunkte der ärztlichen und psychotherapeutischen Fachrichtungen ergänzen sich dabei gegenseitig.
In manchen Fällen beginnen unsere Ärzt*innen für Klient*innen in Therapie bei uns auch eine medikamentöse Behandlung, wenn ein erster Termin bei einem Psychiater in weiter Ferne steht. Dies kann zu einer wichtigen Stabilisierung beitragen und die Klient*innen überhaupt erst so zur Ruhe bringen, dass Psychotherapie zielführend wird. Auch werden unsere Ärzt*innen dann zu Sitzungen dazu gerufen, wenn es etwa um akute Erregungszustände geht, in denen eine Notfallmedikation zur Beruhigung notwendig wird, um die Krise zu entschärfen und dann eine Einweisung in die Psychiatrie vorzubereiten.
Zum großen Unglück der Geflüchteten hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren beschlossen, dass Stellungnahmen der Psychologischen Psychotherapeut*innen im Asyl- und Aufenthaltsverfahren keine Geltung mehr haben.
Nur mehr fachärztliche Stellungnahmen zählen, um Traumatisierungen im Asyl- und Abschiebeverfahren darzulegen. Schon vor diesen Gesetzesänderungen war es für Geflüchtete schwer, außerhalb von Einrichtungen wie Refugio München jemanden zu finden, der eine solche Stellungnahme schreiben kann. Mit den Gesetzesänderungen wurden rund zwei Drittel der Fachkräfte ausgeschlossen aus dem Kreis der potenziellen Begutachter*innen. Das ist aus fachlicher Sicht völlig willkürlich. Auch bei Refugio München haben wir dieses Problem, dass viele unserer Klient*innen bei Psychologischen Psychotherapeut*innen in Behandlung sind, die eigentlich auch die Stellungnahmen völlig adäquat schreiben könnten. Auf Grund der Gesetzesänderungen müssen nun unsere Ärzt*innen sämtliche Klient*innen sehen und diagnostizieren, für die Stellungnahmen geschrieben werden. Ein Unding und eine sehr große Belastung für unsere ärztlichen Mitarbeiter*innen!
Immer wieder werden die Ärzt*innen bei unseren Klient*innen dann auch als sachverständige Zeugen im Asylverfahren zu Gericht eingeladen. Eine häufige Frage von Richter*innen, sagt Dr. Heike Baumann-Conford, ist dann: „Warum glauben Sie das jetzt?“ Nicht selten hat sie dann schon vor Gericht einen Kurzvortrag über Trauma und die fachliche Kompetenz gehalten. „Kürzlich war ich bei einem Gerichtsverfahren als Sachverständige eines unserer Klienten dabei. Der Richter fragte wiederholt nach Details eines Bombenanschlags, den der Klient als Jugendlicher erlebt hatte. Dadurch kamen ihm die Bilder so stark hoch, dass er in eine Krisensituation kam. Der Richter fragte, was denn nun los sei. Da sagte ich ihm, dass das genau eines seiner Probleme sei. Die Erinnerungen kommen immer wieder so stark hoch, dass er nicht mehr im Alltag handlungsfähig ist.“ Der Richter war nun überzeugt von den traumatischen Erlebnissen und der Erkrankung. Er entschied positiv für den Klienten.