„Wir brauchen noch mehr Therapieplätze“

Jahresbericht 2021
Erwachsenenbereich

Katrin Kammerlander ist Psychotherapeutin und hat im letzten Jahr viele schwer traumatisierte Menschen behandelt. Im Interview berichtet sie, wer die Menschen sind, die zu ihr kommen, wie sie ihnen hilft und wie sie selbst mit den schweren Schicksalen umgeht.

Was war 2021 besonders in Deiner therapeutischen Arbeit?

Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan war für unsere Klient*innen ein ganz großer Schock! Viele haben Familie im Land. Sie machen sich große Sorgen um ihre Angehörigen. Der einzige Vorteil, den die schlimme Entwicklung im Land hatte: Menschen aus Afghanistan wurden erstmal nicht mehr abgeschoben. Ihre Chancen auf einen sicheren Bleibestatus haben sich deutlich verbessert.

Kommen viele Deiner Klient*innen aus Afghanistan?

Ja, ein großer Anteil unserer Klient*innen bei Refugio München kommt aus Afghanistan. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine junge Frau aus Kabul. Sie ist jetzt Mitte Zwanzig. Gegen den Willen ihrer Familie hat sie in Afghanistan Taekwondo gelernt und ist eine ziemlich gute Kampfsportlerin geworden. Sie hat sogar einige internationale Wettbewerbe gewonnen. Dadurch, dass sie das als afghanische Frau erreicht hat, sind ihr Frauenrechte immer bewusster und wichtiger geworden. Sie hat begonnen, sich öffentlich für Feminismus zu engagieren. Die Männer in ihrer Familie haben das nicht toleriert und sie schwer misshandelt. Sie ist dann nach Deutschland geflohen, konnte sich retten. Aber ihre Schwestern zu Hause haben jetzt noch weniger Rechte als vorher. Sie dürfen nicht mehr zu Schule gehen. Meine Klientin macht sich große Vorwürfe, dass sie mit ihrem Engagement und auch der Flucht die Situation ihrer Schwestern verschlechtert hat.

Wie kannst Du ihr helfen?

Ich führe ihr immer wieder vor Augen, dass wir in den Momenten, in denen wir eine Entscheidung treffen, manchmal nicht wissen können, was diese Entscheidung in der Zukunft bewirkt. Meine Klientin hat sich entschieden, sich für die Rechte von Frauen in Afghanistan einzusetzen. Sie konnte nicht wissen, dass das Auswirkungen auch auf ihre Geschwister haben würde und auch nicht, dass die Taliban wieder an die Macht kommen würden. Ich helfe ihr, mehr auf das Hier und Jetzt zu fokussieren als auf die Vergangenheit.

Mit welchen Menschen arbeitest Du sonst zusammen?

Wir behandeln viele Menschen, die politisch verfolgt und gefoltert wurden oder sexualisierte Gewalt erfahren haben. Im letzten Jahr hatte ich eine Frau aus dem Kongo in Therapie. Sie ist vor einigen Jahren von dort geflohen, nachdem sie von Polizisten gefangen genommen, gefoltert und vergewaltigt wurde. Sie wurde danach schwanger. Seit der Tat lösen Menschen in Uniform bei ihr Panik aus. In der Therapie arbeiten wir daran, ihr diese Angst zu nehmen. Auch mit ihr arbeite ich viel an der Abgrenzung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Darin hat sie große Fortschritte gemacht. Schön ist, dass sie ihr Kind sehr liebt.

Psychotherapeutin für Erwachsene Katrin Kammerlander-Straub
Das Team mit den meisten Mitarbeiter*innen ist das für erwachsene Klient*innen

Ist es nicht extrem hart, von solch schrecklichen Erlebnissen zu hören?

Natürlich berühren mich diese Schicksale sehr. Häufig trauere ich gemeinsam mit meinen Klient*innen, wenn sie mir von solch schrecklichen Erlebnissen berichten. Manchmal kommen mir auch die Tränen. Das gehört dazu. Dadurch sehen meine Klient*innen, dass mich ihr Schicksal berührt und dass ich sie verstehe. Und dann können wir gemeinsam Strategien entwickeln, um diese Geschehnisse zu verarbeiten.

Was braucht es, damit Du Deinen Klient*innen noch besser helfen kannst?

Mehr Therapieplätze, um noch mehr Menschen behandeln zu können! Und die kosten Geld! Helfen würde mir außerdem, wenn meine Klient*innen alle eine dauerhafte Bleibeperspektive in Deutschland hätten. So lange die Menschen Angst vor Abschiebung haben, ist es schwierig, den Fokus auf die Traumata der Vergangenheit zu richten. Auch würde mir helfen, wenn meine Klient*innen nicht mehr in vollen Gemeinschaftsunterkünften wohnten. Wenn eine Klientin Schlafstörungen hat, aber in einem Viererzimmer in einer Gemeinschaftsunterkunft schläft, ist das nicht optimal. Und ein weiterer Wunsch wäre, dass die Krankenkasse die Kosten für Dolmetscher*innen in der Therapie übernimmt. Bei Refugio München tragen wir die Kosten durch Spenden und Förderungen. Ohne sie wäre meine Arbeit nicht möglich.