Unterstützung für besonders schutzbedürftige Asylsuchende

SoulCaRe – Früherkennung in der Erstaufnahme
Jahresbericht 2022

Refugio München hat seit 2021 ein Team in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in München, das psychisch erkrankte und/oder traumatisierte Geflüchtete, sowie Opfer von Menschenhandel oder LGBTIQ* Personen identifiziert und berät.

 

Die EU-Aufnahmerichtlinie und die EU-Verfahrensrichtlinie schreiben die Berücksichtigung der speziellen Bedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden bei der Unterbringung und im Asylverfahren vor. Gerade „nicht sofort sichtbare“ Schutzbedarfe wie zum Beispiel psychische Erkrankungen, Traumatisierungen, Opfer von Menschenhandel oder die Zugehörigkeit zur Gruppe der LGBTIQ* erfordern eine hohe Fachkompetenz in der Kontaktaufnahme, der Gesprächsführung und der fachlichen Einschätzung bei der Identifizierung. Entscheidend ist auch, welche Bedarfe sich daraus ergeben und dass diese auch bei der Unterbringung und im Asylverfahren berücksichtig werden. Refugio München hat ein Verfahren zur systematischen Früherkennung mit strukturierten Maßnahmen entwickelt, das seit Januar 2021 in der Erstaufnahme in München durchgeführt wird: SoulCaRe (Soul Consideration and Recognition)  

Eine Evaluation des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung IPP München aus den Jahren 2021 bis 2022 hat die hohe Wirksamkeit unseres Konzepts gezeigt: Sowohl Behörden als auch Mitarbeitende von Sozialdiensten und die betroffenen Asylsuchenden berichten von Verbesserungen bei der Unterbringung und in der Anhörung zum Asylverfahren. Wir setzen uns daher auf politischer Ebene für eine Ausweitung dieser systematischen und strukturierten Früherkennung auf weitere Regierungsbezirke und Bundesländer ein.

Exemplarisch für die Wirksamkeit der Früherkennung ist Ahmad H.: der 18jährige wurde vom SoulCaRe Team als besonders vulnerabel identifiziert. Er war aufgrund von Traumatisierungen in Afghanistan und auf der Flucht psychisch hoch belastet. Junge Männer aus Afghanistan werden in der Regel in die Ankereinrichtung Ingolstadt verlegt. Ahmad H. hatte jedoch aufgrund seiner Belastungen und des Verdachts, doch minderjährig zu sein, einen hohen Bedarf an psychosozialer Betreuung, für die der Sozialdienst dort keine Kapazitäten hat. Auch eine Psychotherapie ist während des Asylverfahrens in Ingolstadt mangels Therapieplätzen nicht möglich. Aufgrund der vorliegenden Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung im Zusammenhang mit einer schweren Depression konnte das Team von SoulCaRe seine Unterbringung in einer Jugendeinrichtung in München erwirken. Der junge Afghane kann so auch zur Psychotherapie in unser Behandlungszentrum kommen. Bereits sechs Monate später war er so stabil, dass er ein guter Schüler mit Einser-Noten ist und so gut Deutsch spricht, dass die Therapie auf Deutsch stattfinden kann. Er ist sehr ehrgeizig und möchte noch dieses Jahr seinen Schulabschluss machen und dann eine Ausbildung zum Installateur beginnen. Ahmad ist innerhalb weniger Monate von einem psychisch schwer belasteten Menschen zu einem ambitionierten jungen Mann geworden, der seine Zukunft plant, weil er schnell die nötige Hilfe erhalten hat.

Diese systematische Früherkennung von besonderen Schutzbedarfen und strukturierte, etablierte Prozesse zur Umsetzung der nötigen Maßnahmen sind für alle Erstaufnahme-Einrichtungen dringend erforderlich.

Das SoulCaRe Team wurde bis Juni 2022 vom AMIF (Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU) mitfinanziert, ein Folgeantrag läuft gerade. Das Bayerische Innenministerium kofinanziert das Projekt seit Juli 2022.

Das „Peer-Konzept“

Die Kontaktaufnahme zu Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, psychisch erkrankt sind oder zur Gruppe der LGTBIQ* gehören, ist eine große Herausforderung.  Bei SoulCaRe treten psychosoziale Peer-Berater*innen, die eigene Fluchterfahrungen haben, mit neu angekommenen Asylsuchenden in Kontakt. Die ähnlichen Erfahrungen einer Flucht, des Ankommens in einer völlig neuen Umgebung und des Asylverfahrens mit all den dazu gehörigen Ängsten erleichtern den Vertrauensaufbau. So können die neu Angekommenen schneller die nötige Sicherheit finden, um von eventuell schambesetzten Erlebnissen zu berichten. Zur Identifizierung von besonderen Schutzbedarfen ist das Peer-Konzept ein wertvolles Instrument, weil es dazu beiträgt, kulturelle Barrieren zu überwinden und damit den Zugang zu Beratungsmöglichkeiten erleichtert. Es betont die Bedeutung des Vertrauens und der gegenseitigen Unterstützung durch einen besseren sprachlichen, kulturellen und emotionalen Zugang zu Schutzsuchenden.