Vertrauen aufbauen

Gutachtenstelle
Jahresbericht 2022

Bei Refugio München arbeiten zusätzlich zu den Psycholog*innen auch vier Fachärzt*innen in der Psychotherapie. Eine ihrer Aufgaben ist es, fachärztliche Stellungnahmen über psychische Erkrankungen für das Asylverfahren zu erstellen.

 

Die Asylrechtsverschärfungen aus den Jahren 2016 und 2019 haben leider Stellungnahmen und Gutachten von Psychotherapeut*innen, die einen Abschluss in Psychologie haben, von der Berücksichtigung im Asylverfahren ausgeschlossen. Obwohl diese aufgrund der kontinuierlichen Arbeit mit den Patient*innen in der Therapie eigentlich am besten über deren Erkrankung berichten können. Akzeptiert werden aktuell nur Stellungnahmen von Fachärzt*innen für Psychiatrie oder für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Das schränkt den Personenkreis stark ein. Bei Refugio München haben wir deshalb eine eigene Stelle, die gutachterliche Stellungnahmen im Asylverfahren für Gerichte erstellt.

Die Anfragen dafür erhalten wir von Rechtsanwält*innen oder Beratungszentren. Voraussetzung für die Annahme einer Gutachten-Erstellung ist, dass die asylsuchende Person eine juristische Vertretung hat und sich im Klage- oder Folgeverfahren aufgrund der psychischen Erkrankung befindet. Die Rechtsanwält*innen stellen unseren begutachtenden Ärzt*innen zunächst alle Dokumente, Unterlagen, medizinischen Atteste oder Stellungnahmen von Psychiater*innen oder Psychotherapeut*innen zur Verfügung, die bereits vorliegen. Anhand dieser Dokumente entscheiden wir vorab, ob eine Begutachtung in Frage kommt.

Der Schwerpunkt der gutachterlichen Stellungnahmen liegt auf der Frage, ob und mit welchem Schweregrad eine psychische Erkrankung vorliegt und was die Konsequenzen einer Abschiebung auf die psychische Gesundheit wären. Dazu kommen weitere komplizierte und aufwändige Anforderungen, die gesetzlich festgelegt sind.  In der Regel liegen bereits zahlreiche Dokumente vor, wie Atteste von Ärzt*innen, Entlassbriefe aus Kliniken, ausführliche Stellungnahmen von Psychotherapeut*innen oder Psychiater*innen, die aber den gesetzlichen Anforderungen – oft nur in einem kleinen formalen Detail –  nicht entsprechen und daher vom BAMF oder Gericht nicht akzeptiert werden.

Das ist auch der Grund warum niedergelassene Psychiater*innen oder Kliniken den Aufwand der Erstellung von Gutachten im Asylverfahren nicht leisten können. Es braucht weitreichende Kenntnisse über die speziellen juristischen Anforderungen und die Begutachtung erfordert meist auch eine Sprachmittlung, damit keine Missverständnisse entstehen. Der Zeitaufwand beläuft sich bisweilen in komplizierten Fällen auf 15 bis 20 Stunden, die nicht von den Behörden oder über das Asylbewerberleistungsgesetz bezahlt werden.

Für die Begutachtung braucht es zwei bis drei Termine mit den Betroffenen für je zwei Stunden, dazu gehört auch eine psychologische Testung auf Depression und (komplexe) PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung). Bei Folterspuren ziehen wir Expert*innen aus der Rechtsmedizin hinzu. Wenn wir beim ersten Termin keine schwerwiegende Erkrankung feststellen, wird die Erstellung des Gutachtens abgelehnt, aufgrund unserer Vorselektion anhand der bereits vorliegenden Dokumente kommt das aber selten vor.

Essentiell für die Berichte ist die Schilderung der traumatischen Erlebnisse durch die erkrankten Asylsuchenden – eine sehr hohe Herausforderung für die Begutachtenden, denn gerade traumatisierte Menschen können kaum über das Erlebte sprechen. Es erfordert viel Erfahrung und Expertise in nur zwei bis drei Terminen diese Berichte von den Betroffenen zu erhalten. Ein Grund, warum die Therapeut*innen eigentlich die prädestinierten Personen für diese Stellungnahmen wären. Sie haben bereits ein Vertrauensverhältnis aufgebaut und kennen den Verlauf der Erkrankung.

Um trotz der kurzen Zeit den nötigen Zugang zu den erkrankten Geflüchteten herzustellen, bauen unsere Gutachter*innen eine vertrauensvolle Beziehung auf. Die Betroffenen müssen spüren, dass ihre persönliche Verfassung und Geschichte dem*der Ärzt*in wichtig sind und dass ihre leidvollen Erfahrungen ernst genommen werden. Obwohl bei der Gutachtenerstellung die Anerkennung vor Gericht im Vordergrund steht, ist es für die Betroffen häufig schon eine Erleichterung, dass unsere Ärzt*innen ihnen zuhören, ihre Erkrankung belegen und ernst nehmen, auch das kann zur Genesung beitragen.

Camilla Ulivi
Dott.ssa Camilla Ulivi, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie erstellt fachärztliche Gutachten im Rahmen des Asylverfahrens und ist eine der vier Fachärzt*innen bei Refugio München