AnkERzentrum Manching

Wo die Not zum Himmel schreit – ein Jahr Hilfe für Kinder im AnkER-Zentrum Manching

eine Bilanz von Jürgen Soyer, Geschäftsführer (Oktober 2019)

„Was ist eigentlich an den AnkER-Zentren so schlimm?“, fragen mich immer wieder Interessierte.  „Diese Zentren sollen doch die Asylverfahren schneller machen und was ist falsch daran?“

Tatsächlich haben wir von Refugio München stets gefordert, dass Asylverfahren schneller werden sollen. Manche Klienten von uns haben Jahre auf die Anhörung oder Entscheidung gewartet. Das macht mürbe und hoffnungslos. Sind also die Beschwerden über die AnkER-Zentren nur ein Reflex der Anklage oder steckt mehr dahinter?

Refugio München war ein Jahr mit Ärzte der Welt im AnkER-Zentrum in Manching bei Ingolstadt. Mit Fördergeldern der UNO-Flüchtlingshilfe und Ihren Spendengeldern konnten wir einen Kinder- und Jugendpsychiater und eine Kunsttherapeutin finanzieren. Refugio München kümmerte sich vorwiegend um die psychische Gesundheit von Kindern, Ärzte der Welt um die der Erwachsenen. Alle zwei Wochen fuhren unsere Fachleute gemeinsam im VW-Bus nach Ingolstadt.

In einer Anhörung des Bayerischen Landtags im September berichtete Dr. Daniel Drexler, Kinder- und Jugendpsychiater, von seinen erschütternden Erfahrungen im Zentrum. Kinder und Jugendliche, die schon traumatisiert ankommen, finden dort keine Hilfe. Die Tageszeitung taz fasste es so zusammen: „Er erzählt von einem Geschwisterpaar, das sich um die Mutter kümmern muss, weil diese schon drei Suizidversuche verübt habe. Ein zehnjähriges Kind nässe stressbedingt und bei Polizeieinsätzen wieder ein. Eine 16-jährige Krebskranke erleide häufig Krampfanfälle, die beiden Geschwister müssten das mit ansehen. Die Verlegung in eine Klinik werde abgelehnt.“

Keine Privatsphäre und kein Kontakt nach „draußen“

In den Lagern leben viele hundert auf engem Raum zusammen, dürfen keiner geregelten Arbeit nachgehen, bekommen zu festen Uhrzeiten ein vorgeschriebenes Essen, haben keine Freizeitmöglichkeiten, keine Privatsphäre, ihre Zimmertüren können sie oft nicht abschließen, Besuche im Lager sind sehr schwer möglich. Rechtsanwält*innen dürfen nur nach Anmeldung in Manching zu ihren Mandanten ins Lager; Ehrenamtliche nur sehr eingeschränkt. Die Sozialdienste im Lager haben zu wenig Kapazitäten. Eine Lagerschule isoliert die schulpflichtigen Kinder von Kindern außerhalb des AnkER-Zentrums. Die Lager sind umzäunt und der Eingang wird von Sicherheitsbeamten kontrolliert. Die Bewohner*innen werden beim Ein- und Ausgang registriert, ihre Taschen werden kontrolliert. Regelmäßige Polizeirazzien und Abschiebungen prägen die Atmosphäre.

In der Kunsttherapie-Gruppe bot unsere Mitarbeiterin Maria Heller den Kindern einmal an, sich Häuser aus Pappkartons zu bauen: Die Kinder nahmen das Angebot sofort an, um sich einen eigenen Schutzraum zu schaffen. Konzentriert und mit Eifer bastelte sich jedes Kind das Abbild eines eigenen Zuhauses, weil es sich Geborgenheit wünscht.

Vor Innenminister Seehofers Masterplan hießen die AnkER-Zentren „Transit-Zentren“. Sie wurden ursprünglich für abgelehnte Flüchtlinge aus dem Westbalkan errichtet, um die Menschen dort für kurze Zeit unterzubringen und ihre Abschiebung leichter zu organisieren. Genauso abschreckend wirkt das AnkER-Zentrum Manching auch heute noch.  Aber jetzt ist es eine Erstaufnahme-Einrichtung für Flüchtlinge aus allen Ländern, die traumatisiert ankommen und Sicherheit brauchen. Stellen Sie sich vor: Kinder, die Bombenangriffe erlebt haben, Frauen, die vergewaltigt wurden, Männer, die mit ansahen, wie ihre Familie im Mittelmeer ertrank, sie alle kommen in Deutschland an und leben Wochen, Monate und Erwachsene manchmal Jahre unter solchen Bedingungen. Ihre Asylanhörung findet in den ersten Tagen und Wochen unter diesen Bedingungen statt und sie sollen sofort all ihre traumatischen Erlebnisse detailreich erzählen.

Es ist unmöglich, dass Menschen unter so angstmachenden und isolierenden Lebensbedingungen sofort ihre innersten Verletzungen und Gewalterfahrungen im Asylverfahren berichten. Die EU-Aufnahmerichtlinie schreibt vor, dass besonders belastete Flüchtlinge sofort identifiziert werden müssen und auf ihre Bedürfnisse bei der Unterbringung eingegangen werden muss.

Die Lebensbedingungen machen zusätzlich krank und sind vor allem für Kinder eine Katastrophe

Das Ziel des gemeinsamen Projekts von Refugio München und Ärzte der Welt war: Besonders Schutzbedürftige identifizieren, damit Behörden auf ihre Not eingehen. Aber in den AnkER-Zentren gibt es nur für wenige Stunden Ärzt*innen, die meistens auch nicht auf das Thema der Psyche spezialisiert sind und ohne Dolmetscher*innen arbeiten. So kann sich niemand um Traumatisierte oder psychisch Kranke fachgerecht kümmern. Die engagierten Sozialdienste sind bereits mit den Alltagsproblemen der Bewohner*innen an ihrer Kapazitätsgrenze.

Nach einem Jahr mussten wir und Ärzte der Welt feststellen, dass es sehr viele psychisch stark belastete Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Manching gibt. Wir mussten feststellen, dass die oben beschriebenen Lebensbedingungen für neu ankommende Flüchtlinge und ganz besonders für Kinder eine Katastrophe sind und die Menschen zusätzlich krank machen.

Wenn wir eine Person als traumatisiert identifiziert haben, gib es kein funktionierendes System, wie man auf ihre Bedürfnisse eingehen könnte. Jeder Fall ist ein neuer Kampf um Zuständigkeit, eine zeitnahe Reaktion und eine positive Entscheidung.

Wenn Erstaufnahme-Einrichtungen mit beschleunigten Asylverfahren gelingen sollen, dann müssen deshalb folgende Bedingungen erfüllt sein:

  • kleine Unterkünfte, in denen die Bedürfnisse der Menschen wahr- und ernst genommen werden
  • ein System der Früherkennung von Traumatisierten und psychisch Kranken, das mit Fachkräften eine wirksame Betreuung sicherstellt
  • klar geregelte behördliche Abläufe und ausreichend Sachbearbeiter*innen, damit sofort auf besondere Bedürfnisse eingegangen werden kann
  • die Berücksichtigung einer Traumatisierung oder psychischen Erkrankung im Asylverfahren durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
  • eine frühzeitige Integration der Bewohner*innen mit Arbeitserlaubnis und Zugang zu Regelschulen und Kitas

Das Projekt in Manching endet leider zum Jahresende, auch aus finanziellen Gründen. Refugio München wird sich aber weiterhin dafür einsetzen, dass unsere Forderungen Realität werden. Unterstützen Sie uns bitte durch Ihre Spende und als Botschafter*in in Ihrem privaten Umfeld für unsere Arbeit und Ziele!