Ein letztes Mal in Kabul

Evakuierung aus Kabul

Viele unserer Klient*innen haben in Afghanistan noch Familie und wir fühlen jeden Tag ihre Not und ihre Angst mit. Bahaoddin, ein ehemaliger Klient, war in Kabul zu Besuch und hat die Tage der Machtübernahme durch die Taliban erlebt.

Einmal noch die Eltern sehen, einmal noch die Brüder und die Schwester sehen. Das war Bahaoddins Wunsch als er Ende Juli 2021 nach Kabul geflogen ist. Vor allem wollte er seine Frau besuchen, die er vor über einem Jahr geheiratet hat und seitdem vergeblich versucht hat, sie nach Deutschland zu holen.

Wer zu dieser Zeit bereits wusste, dass die Taliban Mitte August Kabul einnehmen würde, ist Inhalt von Spekulationen, Vorwürfen und Recherchen. Feststeht: Bahaoddin hat es nicht gewusst. Er wusste nur, dass es vielleicht für immer der letzte Besuch bei seiner Familie sein würde und deshalb hat er ihn gewagt. Er selbst ist in Afghanistan in höchster Gefahr vor den Taliban und wusste, er wird dort nur wenige Tage sein können und niemand außer der Familie wird es wissen dürfen. Seit 2010 ist er in Deutschland, er hat eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis und arbeitet als Koch.

Er musste schon mit 14 vor den Taliban aus Afghanistan fliehen und war 4 Jahre auf der Flucht.

Als er in Deutschland ankam ging es ihm schlecht, er konnte kaum schlafen und hatte schreckliche Alpträume. Ein Arzt, empfahl ihm dann eine Therapie. Und so ist er zu Refugio München gekommen. Drei Jahre Therapie haben ihm geholfen, sich ein Leben in Deutschland aufzubauen und auch zwei jüngere Brüder, die 2016 nach Deutschland gekommen waren, haben bei Refugio München eine Therapie gemacht.

Sie waren es auch, die Mitte August voller Angst bei Bahaoddins ehemaliger Therapeutin bei Refugio München angerufen haben: Ihr Bruder ist in Kabul, die Taliban sind in der Stadt und er kommt nicht mehr raus. Fast eine Woche haben sie mehrmals am Tag mit Heike Baumann-Conford telefoniert und sie gebeten zu helfen. Viele der Mitarbeiter*innen von Refugio München haben solche Hilferufe bekommen, sie haben telefoniert und Krisentermine mit Klient*innen gehabt. Was sie tun konnten, war zuhören, reden, stabilisieren und Informationen über Menschen in Afghanistan an Kontaktadressen beim Auswärtigen Amt weitergeben. Was sie nicht konnten, war Menschen aus Afghanistan retten. Das gemeinsam mit den verzweifelten Klient*innen zu ertragen, ist mit die schwierigste Aufgabe, die unsere Mitarbeiter*innen aushalten mussten.


 

Evakuierung Afghanistan
Bei einem dieser Flüge wurden Bahaoddin und seine Frau aus Kabul evakuiert Foto©Bundeswehr/Marc Tessensohn
In München, in Sicherheit

 

Bahaoddin hat es aus Kabul geschafft!

Drei Tage hat er gemeinsam mit seiner Frau und seiner 14jährigen Schwester versucht, durch die verschiedenen Kontrollen und Tore des Kabuler Flughafens zu kommen. Dreimal sind sie durch die Stadt, durch das Chaos, an den schwer bewaffneten und unberechenbaren Taliban vorbei. Sie haben in den Menschenmassen vor den Flughafen-Eingängen Menschen sterben sehen. Beim dritten Versuch konnten sich Bahaoddin und seine Frau endlich durchkämpfen. Bahaoddin hat seine Frau getragen, sie war inzwischen zu schwach und das Risiko, dass sie in der Menschenmenge stürzt und niedergetrampelt wird, war zu groß. Seine kleine Schwester war direkt hinter ihm. Doch als er sich nach der 14jährigen umdreht, kann er nur noch erkennen, wie sie direkt vor dem Tor von schwer bewaffneten Taliban abgedrängt und mit Kabeln geschlagen wird. Sie schafft es nicht zu ihm durch das Tor und er kann nicht zurück.

Bahaoddin kann sich und seine Frau auf einem Flug der Bundeswehr nach Deutschland retten. Seine Schwester, seine beiden Brüder und seine Eltern bleiben zurück.

„Mir geht es nicht gut“, sagt er. „Wie sollte es mir gut gehen, wenn meine Familie zurückbleiben musste? Meine kleine Schwester ist stark, sie wurde geschlagen und schwer verletzt und sie gibt nicht auf. Aber wie soll ich ihr helfen?“

Bahaoddin ist jetzt in München. Er arbeitet, er regelt alle Behördengänge für seine Frau, er hält Kontakt zu allen Familienmitgliedern, er tröstet, er versucht ihnen Mut zu geben. Er versucht alles, um sie doch noch aus Afghanistan zu retten.

Aber Bahaoddin braucht dafür sehr viel Kraft. Auszuhalten, was in den letzten Wochen und Monaten in Afghanistan passiert ist und noch passiert, ist eine Bürde, die kaum zu tragen ist. Auch unsere Mitarbeiter*innen sind dabei an ihre Grenzen gekommen. Diese Belastungen gemeinsam mit den Klient*innen zu tragen, ist nur durch ein stabiles und gutes Team möglich. Nur die Erfahrung, die sorgfältige Ausbildung und der Zusammenhalt machen es möglich, dass unsere Mitarbeiter*innen in solchen Krisen da sein können. Dass sie Menschen nach einer langen Flucht und traumatischen Erlebnissen Halt geben können.