Jahresbericht 2021
Ärztliche Arbeit und Gutachtenstelle
Psychotherapeut*innen können aus der Psychologie oder der Medizin kommen und müssen unabhängig ihres Abschlusses eine mehrjährige Ausbildung für Psychotherapie machen. Bei Refugio München haben zudem fast alle therapeutisch Arbeitenden eine Approbation.
Die Fachärzt*innen, die bei Refugio München arbeiten, haben neben ihrer psychotherapeutischen Arbeit noch eine besondere Aufgabe, die durch die Asylrechtsverschärfungen der letzten Regierung entstanden ist: Nur sie dürfen qualifizierte ärztliche Stellungnahmen erstellen, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und den Verwaltungsgerichten als Beleg für eine schwere psychische Erkrankung akzeptiert werden.
Ein Beispiel: Ahmad A. wurde von Taliban als Jugendlicher schwer misshandelt, gefoltert und vergewaltigt, sein Vater hatte für die NATO-Soldaten gearbeitet. Als er der Tortur entkommen konnte, floh er aus Afghanistan und kam mit 16 Jahren als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling in Deutschland an. Gerade volljährig geworden erhielt er den Ablehnungsbescheid des BAMF. Danach ging es mit ihm psychisch steil bergab, er konnte sich nicht mehr konzentrieren, nicht mehr schlafen, musste seine Ausbildung abbrechen. A. musste mehrmals in eine psychiatrische beschützende Station, er hatte einen Suizidversuch hinter sich. Im Gerichtsverfahren wurden die Atteste und Arztbriefe aus der Psychiatrie aber nicht anerkannt, da sie nicht den vorgeschriebenen gesetzlichen Standards entsprachen. Nachdem er von seiner Anwältin bei Refugio München angemeldet worden war, erstellte die Fachärztin der Gutachtenstelle Camilla Ulivi nach drei Begutachtungsterminen und der intensiven Durchschau der bis dahin vorliegenden Dokumente eine gutachterliche Stellungnahme für das Verwaltungsgericht. Die neue Stellungnahme wurde akzeptiert und der Klient bekam einen Aufenthalt zugesprochen, bis dahin war es aber ein langer, für ihn belastender Weg.
Wenn es sich um Klient*innen handelt, die bereits bei Refugio München in Therapie sind, reichen leider die Befundberichte der psychologischen Psychotherapeut*innen auch nicht aus. Auch dann müssen unsere Fachärzt*innen gemeinsam mit dem oder der behandelnden Therapeut*in eine gemeinsame Stellungnahme schreiben, sonst werden die Berichte vom BAMF und den Gerichten nicht akzeptiert und sind zwecklos.
Natürlich haben die Ärzt*innen bei Refugio München auch Aufgaben, für die eine medizinische Ausbildung fachlich relevant ist: Sie sind zum Beispiel die Fachkräfte, um psychotische Erkrankungen von Traumafolgestörungen abzugrenzen. Also vereinfacht gesagt: hört eine Person wirklich Stimmen oder ist es das andauernde Wiedererleben, das sie im Kopf hat? Die Fachärzt*innen bei Refugio München können in akuten Krisen auch eine medikamentöse Notfall-Behandlung einleiten und Patient*innen in eine Psychiatrie einweisen. Darüber hinaus kooperieren sie mit der Rechtsmedizin zur Begutachtung von Folterspuren und zur Intervision mit Klinikärzt*innen, die Geflüchtete behandeln. Wichtige Aufgaben, die viel Zeit in Anspruch nehmen. Zeit, die aktuell noch durch die Notwendigkeit gebunden ist, qualifizierte ärztliche Stellungnahmen zu verfassen und zu verantworten, die fachlich ebenso von den behandelnden psychologischen Psychotherapeut*innen erstellt werden könnten.
Unter anderem weil dieser Zustand nicht akzeptabel ist, ist unsere Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. Heike Baumann-Conford ständiger Gast in der Kommission für Menschenrechte der bayerischen Landesärztekammer. Sie berichtet dort regelmäßig über die rechtlichen Missstände bei der psychosozialen Versorgung von Geflüchteten. Die Landesärztekammer hat zum Beispiel beim BAMF und dem bayerischen Innenministerium interveniert, wenn Menschenrechte bei Abschiebungen verletzt oder fachärztliche Gutachten zur Gesundheit von Geflüchteten nicht berücksichtigt wurden. Auch das Thema der Stellungnahmen, die bessere Unterstützung psychosozialer Zentren für Geflüchtete und die flächendeckende Früherkennung traumatisierter und/oder psychisch erkrankter Geflüchteter in Erstaufnahmeeinrichtungen hat sich die Landesärztekammer zu eigen gemacht – auch auf Initiative der Ärztinnen und Ärzte bei Refugio München.