„Kinder fallen oft durchs Raster“

Kinder- und Jugendbereich
Jahresbericht 2022

Auch im Jahr 2022 ist die Anzahl der geflüchteten Kinder und Jugendlichen in Therapie bei Refugio München gestiegen. Vor allem mehr unbegleitete minderjährige Geflüchtete haben unsere Hilfe gebraucht.

 

Die Lebensbedingungen von Asylsuchenden machen es gerade den jüngsten unter den Schutzsuchenden nicht einfach, sich von traumatischen Erlebnissen zu erholen. Kinder- und Jugendtherapeutin Shqipe Krasniqi erzählt hier von den Herausforderungen.

Im Jahr 2022 kamen besonders viele Jugendliche zu dir in die Therapie, die ohne ihre Eltern nach Deutschland geflohen sind. Woran liegt das?

Im letzten Jahr haben wir besonders viele afghanische Kinder und Jugendliche behandelt. Die Machtübernahme der Taliban und die Wirtschaftskrise im Land haben dazu geführt, dass viele Familien ihren Kindern keine Lebensperspektive ermöglichen können. Schweren Herzens schicken sie ihre Kinder allein auf den Weg nach Europa. Wenn diese unbegleiteten Minderjährigen es tatsächlich nach Deutschland schaffen, sind sie psychisch oft schwer belastet, weil sie schlimme Dinge erlebt haben. Diejenigen, die in meine Therapie kommen, sagen: „Meine Familie braucht mich, ich muss jetzt sofort Geld verdienen!“ Im letzten Jahr habe ich einen jungen Mann aus Afghanistan therapiert. Er ist 19. Seine Eltern sind gestorben, aber er hat drei kleine Geschwister in Afghanistan. Eines davon hat eine Behinderung. Er verspürt enormen Druck, sie zu unterstützen und macht sich große Sorgen, dass seine kleine Schwester von den Taliban zwangsverheiratet wird.

Bekommen diese unbegleiteten Minderjährigen in Deutschland besondere Hilfe?

Unbegleitete minderjährige Geflüchtete werden meist in speziellen Wohngruppen aufgenommen. Dort bekommen sie ein eigenes Zimmer und eine*n persönlichen Betreuer*in. Sie können zur Schule gehen. Jedes geflüchtete Kind sollte diese Unterstützung erhalten! Das passiert aber nicht! Die Kinder, die mit ihren Familien kommen, müssen mit ihren Eltern und Geschwistern in die Sammelunterkunft und dort mehrere Monate oder manchmal Jahre bleiben. Im Alltag können ihre Eltern ihnen wenig helfen, weil sie oft selbst psychisch belastet sind. Die Kinder sind dann weitgehend auf sich allein gestellt.

Wie sind die Bedingungen in diesen Unterkünften?

Sie sind oft laut, dreckig und liegen am Stadtrand ohne Verkehrsanbindung. Für Kinder ist das eine sehr schädliche Umgebung. Durch den Lärm, den Stress und die fehlende Privatsphäre kommen sie nicht zur Ruhe. Wie sollen sie sich auf die Schule konzentrieren oder Hausaufgaben machen? Meine Klient*innen berichten mir manchmal, dass sie Badezimmer und Duschen nicht abschließen können. Das darf nicht sein! Ich habe minderjährige Klientinnen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Wenn diese in eine nicht absperrbare Dusche gehen müssen, löst das bei ihnen Panik aus. Wie soll unter diesen Bedingungen das dringend nötige Gefühl von Sicherheit entstehen?

Kann so ein Trauma heilen?

Die mangelhaften Lebensbedingungen in den Unterkünften machen viele Kinder erst hier in Deutschland wirklich krank. In jedem Fall erschweren sie ihre Heilung massiv! Kinder, die auf der Flucht Schlimmes erlebt haben, brauchen professionelle Betreuung. Leider fallen sie in den Unterkünften oft durch alle Betreuungsraster. Ihre Schwierigkeiten und psychischen Auffälligkeiten werden nicht entdeckt. Häufig ist ein Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin für 150 bis 200 Personen zuständig. Wenn aber die Probleme der Kinder erkannt werden und sie in Einrichtungen wie Refugio München behandelt werden können, dann erholen sie sich oft erstaunlich schnell. Je früher wir helfen können, desto effektiver und schneller funktioniert auch die Therapie. Aber es muss mehr Therapiemöglichkeiten für geflüchtete Kinder und Jugendliche geben.

Was muss sich ändern?

Familien sollten in größeren Wohneinheiten mit eigenen Zimmern, Küche und Bad leben können. Und es braucht mehr Sozialarbeiter*innen, die ein Auge auf die Familien und speziell die Kinder haben. Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder in einem stabilen, fürsorglichen Umfeld aufwachsen können. Nur so schaffen wir Menschen, die sich hier in Deutschland wohl fühlen, selbstbewusst ihren Weg gehen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Das Team für die Psychotherapie und Beratung von Kindern und Jugendlichen